Pflegefall Deutschland – Lahme Bürokratie statt schneller Hilfe

Rollstuhlfahrer vor Schlucht, die ihn von der Pflege trennt, über die Schlucht führt eine unsichere Brücke aus Paragraphen, die an Aktenordnern festgemacht ist
„Ich habe doch viele Jahre in die Pflegeversicherung eingezahlt, warum macht ihr es mir jetzt so schwer, wenn ich Pflege benötige?“ (Urheber Schlucht und Hintergrund: iwat1929 Quelle: Freepik, Urheber Rollstuhlfahrer: Christian Dorn Quelle: Pixabay, Urheber Ordner: G.C. Quelle: Pixabay, Urheber Münze: Ali Uyar Quelle: Pixabay, Gesamtbildkomposition: GehtSoGarNicht)

Schon seit Jahren klagen sowohl Pflegekräfte als auch pflegende Angehörige über die mangelhaften Zustände unseres Systems: karge Löhne und Fachkräftemangel auf der einen Seite, Dauerstress ohne Auszeit sowie finanzielle Belastung auf der anderen. Für uns war das bisher immer weit weg. In jungen Jahren rechnet man in der Regel nicht damit, in naher Zukunft zu einem Pflegefall zu werden. Erst als ein Angehöriger selbst plötzlich von einem Tag auf den anderen auf fremde Hilfe angewiesen war, erkannten wir das ganze Ausmaß des Desasters. Es folgten die lange Suche nach einer Pflegeeinrichtung, enorme Kosten in Vorleistung sowie Bürokratie und Verzögerungen ohne Ende. All das ging natürlich zu Lasten des Patienten. Bis endlich eine dauerhafte bezahl- und erreichbare Pflegeunterkunft organisiert war, gingen Monate ins Land Monate, in denen sich der Betroffene immer wieder mit einem neuen Umfeld und neuen Pflegepersonen und Gegebenheiten arrangieren musste. Kein Wunder, dass sich so mancher Pflegebedürftige nach einem arbeitsreichen Leben von seinen überforderten Angehörigen und vor allen Dingen vom Sozialstaat aufs Abstellgleis geschoben fühlt.

Rollstuhlfahrer vor Schlucht, die ihn von der Pflege trennt, über die Schlucht führt eine unsichere Brücke aus Paragraphen, die an Aktenordnern festgemacht ist
„Ich habe doch viele Jahre in die Pflegeversicherung eingezahlt, warum macht ihr es mir jetzt so schwer, wenn ich Pflege benötige?“
(Urheber Schlucht und Hintergrund: iwat1929 Quelle: Freepik, Urheber Rollstuhlfahrer: Christian Dorn Quelle: Pixabay, Urheber Ordner: G.C. Quelle: Pixabay, Urheber Münze: Ali Uyar Quelle: Pixabay, Gesamtbildkomposition: GehtSoGarNicht)
Wer soll das bezahlen?

1995 führte Deutschland die Pflegeversicherung als weitere Säule der Sozialversicherung ein, für die seither sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber Beiträge leisten. Grund der Neuerung waren die gestiegene Lebenserwartung und damit auch die Zunahme an Pflegefällen. Man könnte nun zu der irrigen Annahme kommen, dass wie bei der Krankenversicherung, an die sie angegliedert ist, der größte Teil der Kosten im Leistungsfall erstattet wird. Dem ist leider nicht so. Ein großes Problem bei der Pflegeversicherung ist, dass sie nach dem Teilkasko-Prinzip funktioniert. Sie zahlt je nach Art der Pflege (z. B. ambulant, häuslich, teil- oder vollstationär) Pauschalen aus, die aber in den meisten Fällen bei Weitem nicht kostendeckend sind. Den Rest muss der Betroffene im Pflegefall selbst bezahlen.

Im Idealfall sollte dieser Eigenanteil von der Rente abgedeckt werden. Aber auch das ist längst nicht (mehr) der Fall. Zum einen ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass die staatliche Rente gerade bei Geringverdienern auch schon ohne einen eingetretenen Pflegefall nicht ausreicht und manch ein Rentner trotz 45 Arbeitsjahren auf Grundsicherung angewiesen ist (dem Thema Altersarmut wollen wir später noch einen eigenen Artikel widmen). Zum anderen ist die Pflege in den letzten Jahren beständig teurer geworden. Allein die Kosten für einen guten Heimplatz sind zumindest in den ersten Jahren teilweise deutlich höher als die Rente. Nur wer viele Jahre im Heim zubringt, kann auf höhere Zuschüsse hoffen. Hinzu kommen Medikamente, teure Hilfsmittel wie Rollstühle, Pflegebetten usw., was zur Folge hat, dass die eigenen Ersparnisse schnell aufgebraucht sind.

Laut Gesetz steht einem Pflegebedürftigen zumindest ein sogenanntes Schonvermögen in Höhe von 10.000 Euro zu, dass er nicht für die Finanzierung der Pflege heranziehen muss. Allerdings kann ihn das Sozialamt zwingen, kürzlich getätigte Schenkungen (z. B. an Kinder und Enkel) zurückzufordern. Außerdem werden u. U. sogar die Kinder zur Kasse gebeten, wenn die Eltern zum Pflegefall werden. Das Schlagwort hierfür heißt Elternunterhalt. Ab einem jährlichen Bruttoeinkommen von über 100.000 Euro müssen Kinder die Unterhaltskosten für ein Elternteil übernehmen, wenn das eigene Vermögen dafür nicht ausreicht. (Für alle Werte gilt: Stand 2023, nähere Informationen dazu hier).

Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare!

Wie bei anderen Versicherungen oder staatlichen Leistungen ist auch die Beantragung von Pflegegeld und weiteren Pflegehilfsleistungen mit jeder Menge Bürokratie verbunden. Wenn ein Mensch unerwartet und plötzlich zum Pflegefall wird, ist an schnelle Hilfe kaum zu denken. Da muss z. B. ein Pflegegrad beantragt und von einem Gutachter bestätigt werden. Ohne diesen Pflegegrad erhält man keinerlei Leistungen oder Kostenerstattungen und kann den Betroffenen in vielen Pflegeheimen noch nicht einmal für einen Pflegeplatz anmelden. Bis man einen Begutachtungstermin gefunden hat und die entsprechende Anerkennung erfolgt ist, vergehen mindestens ein paar Wochen.

Zwar kann ein Hilfsbedürftiger unter Umständen noch eine Zeitlang im Krankenhaus betreut werden, aber auch dort kann er nicht ewig bleiben. Wenn die Pflege im eigenen häuslichen Umfeld aufgrund der Stärke der Einschränkung nicht mehr möglich ist, muss er also vorübergehend bei Angehörigen unterkommen. Die in dieser Zeit benötigten, oben erwähnten Hilfsmittel müssen sie selbst beantragen. Viele Angehörige stehen selbst noch im Berufsleben und können sich nicht rund um die Uhr um den Pflegefall kümmern. Sie benötigen also zumindest die Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes, für den sie ebenfalls wieder Formulare ausfüllen müssen.

Wer sucht, der findet (wenn er Glück, Zeit und Geld hat) einen angemessenen Heimplatz

Da unsere Bevölkerung überaltert, wächst auch die Zahl der Pflegebedürftigen immer weiter. Die Folge ist, dass viele Pflegeheime kapazitativ ausgelastet sind. Entsprechend schwer ist es, einen geeigneten Pflegeplatz zu finden. Schon um ein Zimmer im Betreuten Wohnen zu erhalten, sind in unserer Umgebung z. B. Wartezeiten von bis zu einem Jahr möglich. Besonders, wenn man kurzfristig auf Hilfe angewiesen ist, muss man leider zu oft in einen sauren Apfel beißen. Es bleibt nur die Unterbringung des Angehörigen in einer weit entfernten Einrichtung oder in einer teureren Wohn-/Pflegeform. Längere Anfahrtswege führen dann aber gerade bei den aktuellen Energie- und Treibstoffpreisen zu weiteren Zusatzkosten. Je weiter das Heim entfernt liegt, umso seltener kann man den Bewohner besuchen. Das hat wiederum zur Folge, dass dieser sich von seinen Angehörigen vernachlässigt fühlt und trotz Kontaktmöglichkeiten mit anderen Bewohnern vereinsamt.

Hinzu kommt, dass es trotz hohem Arbeitsaufkommen nahezu überall an Pflegepersonal mangelt. Der Beruf der Pflegekraft hatte über lange Zeit einen schlechten Stand. Eine miese Bezahlung und jede Menge Überstunden machten die ohnehin anstrengende Tätigkeit nicht gerade attraktiv. Viele ausgebildete Pflegekräfte suchten deshalb bereits ihr Glück im Ausland oder haben gar den Beruf gewechselt. Durch den hausgemachten Pflegenotstand ist das unterdimensionierte Personal von Pflegeeinrichtungen heute meist mit viel zu vielen Patienten betraut.

Dieses Missverhältnis sorgt dafür, dass nicht jeder Pflegefall die intensive Betreuung erhält, die er vielleicht benötigen würde. Heilungsprozesse verzögern sich unnötig und der Patient ist länger oder im schlimmsten Fall bis an sein Lebensende auf Pflege angewiesen. In unserem Bekanntenkreis hatten wir einen derartigen Fall mit einem älteren Herrn, der nach einem Schlaganfall eine Zeitlang bettlägerig war. Seine Rehabehandlungen wurden leider nicht konsequent genug angewendet. So fand die Physiotherapie zum Muskelaufbau nur einmal pro Woche statt und fiel sogar wegen Personalmangel mehrere Wochen am Stück gänzlich aus. Der Pflegefall kam dadurch nicht wieder auf die Beine. Er war seine letzten Jahre auf einen Rollstuhl und einen Pflegeheimplatz angewiesen.

Welche finanziellen Hilfen gibt es im Pflegefall?

Wie bereits erwähnt, sollte man schnellstmöglich nach Eintreten eines Pflegefalls einen Antrag bei der Pflegekasse stellen. Bei gesetzlich Versicherten befindet sich diese bei der Krankenkasse, privat Versicherte müssen sich an ihr Versicherungsunternehmen wenden. Nach Eingang beauftragt die Pflegekasse einen Gutachter mit der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Man sollte sich immer im Klaren darüber sein, dass die Bearbeitungsfrist für derartige Anträge 25 Tage beträgt. Nur in Ausnahmefällen muss die Kasse einen Antrag schon innerhalb einer Woche bearbeiten (mehr dazu siehe hier).

Ist ein Pflegegrad festgestellt, kann man je nach Art der Pflege unterschiedliche finanzielle Hilfen von der Pflegekasse in Anspruch nehmen. Für eine vollstationäre Pflege wird ein Zuschuss gezahlt. Dieser besteht aus einem festen und einem variablen Anteil, der sich an der bisherigen Dauer des Heimaufenthalts orientiert und bei längerfristiger Unterbringung erhöht. Das bedeutet, dass eine Betreuung im Heim anfänglich hohe Kosten verursacht, die sich aber schon nach 12 Monaten und dann erneut nach 24 und 36 Monaten verringern. Kann der Patient von einem ambulanten Pflegedienst oder im Betreuten Wohnen versorgt werden, stehen ihm sogenannte Pflegesachleistungen zu. Übernimmt ein Familienangehöriger, Freund oder eine selbstbeauftragte Pflegekraft die Versorgung, zahlen Pflegekasse oder Versicherer ein geringeres Pflegegeld aus. Interessant ist dabei, dass bei nicht vollständig in Anspruch genommenen Pflegesachleistungen dem Pflegebedürftigen ein entsprechender prozentualer Anteil am Pflegegeld zusteht. Für genauere Informationen und Zahlen sei auf die Artikel der Verbraucherzentrale in den Quellen verwiesen.

Hilfen für den Papierkrieg im Paragraphendschungel

Dieie Bürokratie lässt sich auf einfachem Wege leider nicht verringern, aber es gibt Möglichkeiten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. So besteht für Versicherte ein gesetzlicher Anspruch auf Pflegeberatung bei der Pflegekasse oder ihrer privaten Versicherung. Was viele nicht wissen: Dies gilt nicht nur, wenn der Pflegefall bereits eingetreten ist und man Leistungen in Anspruch nehmen muss. Man kann sich bereits kostenlos beraten lassen, wenn „erkennbar ein Hilfs- und Beratungsbedarf besteht“. Bei einer solchen Pflegeberatung, die auch im häuslichen Milieu stattfinden kann, wird ermittelt, welche Hilfen benötigt werden. Die geschulten Pflegeberater informieren umfassend über die Vor- und Nachteile der einzelnen Pflegeformen und verfügen auch über Listen der Pflegeangebote vor Ort.

Um den Überblick in dem ganzen Papierkrieg mit all den Kostenvoranschlägen, Rechnungen und Quittungen nicht zu verlieren, bieten viele Kassen kostenlose Apps an, mit denen sich z. B. Belege abfotografieren und einreichen, Hilfsmittel beantragen, Arzttermine vereinbaren oder Medikationen überwachen lassen. Vor der Nutzung sollte man sich aber über den Datenschutz informieren und genau überlegen, welche persönlichen Daten man bereit ist, über dieses unsichere Medium preiszugeben. Als weiteren Service bieten viele Pflegekassen auch Schulungsvideos zum Thema Pflege an. Zu Pflegehilfsmitteln beraten übrigens auch Apotheken gern, hier sollte man aber bedenken, dass es sich um „Verkäufer“ handelt, die nicht unbedingt die günstigsten Varianten empfehlen. Eine Recherche im Internet zu den empfohlenen Produkten und eventuellen Alternativen kann helfen, Geld zu sparen.

Das Wichtigste: Wem vertraue ich den Pflegefall an?

Wenn ein externer Pflegedienstleister hinzugezogen werden muss, sei es nun ein ambulanter Pflegedienst, eine spezielle Wohnform oder ein Pflegeheim, dann sollte man besonders intensiv recherchieren. Es gibt eine Reihe von schwarzen Schafen in der Branche, denen man seine Angehörigen nicht unbedingt anvertrauen sollte. Erst Anfang des Jahres habe ich ein Gespräch zweier Azubis im Pflegesektor mitbekommen. Eine der beiden beklagte sich lautstark über schreckliche Zustände bei ihrem Arbeitgeber. Dort kam es wohl zur Vernachlässigung von Pflegebedürftigen. Manche lagen schon in ihren eigenen Exkrementen, aber niemand fühlte sich dafür verantwortlich. Die junge engagierte Auszubildende nahm sich der Sache schließlich an. Sie bekam aber keine Anerkennung für ihren Einsatz, sondern wurde auch noch gerügt, weil sie Aufgaben übernommen hatte, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fielen.
Wenn man vor Ort Missstände entdeckt oder von solchen erfährt, kann man zwar den Pflegedienstleister im Nachhinein problemlos wechseln. Gerade bei älteren Menschen sollte aber der zusätzliche Stress durch weitere Umzüge und den Wechsel des vertrauten Umfelds möglichst von Vornherein vermieden werden.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass natürlich auch immer die Möglichkeit besteht, den Angehörigen oder Freund in Eigeninitiative zu Hause zu pflegen. Allerdings ist dies eine sehr zeit- und nervenraubende Aufgabe und man sollte sich wirklich sicher sein, ob man dieser über einen längeren Zeitraum physisch und psychisch gewachsen ist. Selbst als Berufstätiger hat man hier eine Handhabe, denn man kann beim Arbeitgeber eine Pflegezeit beantragen. In einem kleinen Unternehmen hat man allerdings keinen gesetzlichen Anspruch darauf, sondern ist auf die Kulanz des Chefs angewiesen.

Quellen

Wikipedia – Artikel zur Pflegeversicherung in Deutschland
Web.de – Artikel über die Zukunft der Pflege
Bundesgesundheitsministerium – Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
Bundesgesundheitsministerium – Pflegebedürftig – was nun?
Verbraucherzentrale – Artikel zu den finanziellen Leistungen im Pflegefall
Pflege.de – Artikel zum Thema Schonvermögen im Pflegefall
Verbraucherzentrale – Artikel zu den Leistungszuschlägen für Pflegeheimkosten
Lokalmatador – Wie man bei der Pflege-Bürokratie den Überblick behält
Bundesgesundheitsministerium – Artikel zur gesetzlich verankerten Pflegeberatung

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